09.02.16

Die Fotografin - William Boyd

Die vielen Leben der Amory Clay



Amory Clays Leben ist schon immer etwas anders, als das der anderen. Auf Wunsch des Vaters, der später versucht sie mit in den Tod zu reißen, weil er Angst hat allein zu sterben, bekommt sie als Baby diesen androgynen Namen, der für Amorys Gegenüber nicht immer eindeutig als männlich oder weiblich einzustufen ist. Eine Unklarheit, die ihr im späteren Leben zu Gute kommt, denn einer Frau ist es weder in den 30er, noch 40er oder 50er Jahren einfach als Fotografin zu arbeiten. Wird dieser Beruf doch größtenteils von Männern ausgeübt und auch als patriarchalisches Domizil betrachtet.

Doch Amory lässt sich nicht beirren, hat ihr Ziel klar vor Augen, weiß auch nicht, was sie sonst machen soll, denn außer zum Fotografieren fühlt sie sich sonst zu nichts berufen. Ihr Onkel Greville, in den sie sich unsterblich verliebt, bietet ihr die Möglichkeit erste Erfahrungen als seine Assistentin zu sammeln und verschafft ihr durch finanzielle Unterstützung ein Sprungbrett, das ihr eine erste Reise ins Ausland ermöglicht. Gesellschaftsfotografie ist nichts für sie. Sie will heraus stechen, mit ihren Fotos auffallen, später etwas damit bewirken. Und so ist es nicht verwunderlich, dass sie noch keine 25 ist, als sie in ihren ersten Skandal verwickelt ist und später als Kriegsberichterstatterin in Vietnam lebt.

'Du bist sehr impulsiv, Amory, weißt du. Unglaublich eigensinnig.'
'Unglaublich dumm.'
'Ja, so kann man es auch ausdrücken. Das könnte dir im Leben noch Schwierigkeiten einbringen.'“

Wer sich nicht getraut hat, zuzugeben, dass er die Fotografin Amory Clay nicht kennt, deren Namen noch nie zuvor gehört oder eins ihrer Fotos gesehen hat, der darf beruhigt aufatmen, denn obwohl der Roman wie eine Biografie aufgebaut und perfekt mit historischen Ereignissen verwoben, sowie mit Fotografien ausgestattet ist, die wohl überlegt für Untermalung der Geschichte sorgen, ist die eigensinnige Britin eine Boyds Fantasie entsprungene Figur. Wie es ihm gelungen ist so stark, so lebhaft, so authentisch als Mann die Perspektive einer Frau darzustellen, ist für mich ein Rätsel, aber völlig faszinierend. Ich habe nicht das Gefühl einer erfundenen Gestalt nachzurennen, sondern meine Zeit tatsächlich mit Amory Clay zu verbringen, deren Beschreibung ihres Lebens einen unglaublichen Sog entwickelt.

Bis ins kleinste Detail ist die Figur der Amory Clay durchgeplant. Ihre verschiedenen Entwicklungsstadien, vom jungen Mädchen mit schier unerreichbarem Ziel vor Augen, das im Schatten bedeutender Männer lebt und sich erst einmal verlieren muss, um sich selbst zu finden. Von der jungen Frau, die verschiedene Wege gehen muss, um auf den richtigen zu gelangen, denjenigen, der ihr ein gewisses Maß an Glück beschert, denn für volle Glückseligkeit trägt sie einfach zu viel Melancholie in sich. Ein Erbstück ihres Vaters, was soll sie dagegen tun? Bis hin zur Frau, die so viel Leben in sich aufgenommen hat, dass sie diesem irgendwann überdrüssig wird.

„'Wir alle sehen die Welt mit eigenen Augen. Das ist nicht weiter ungewöhnlich. Genau darum geht es ja im Grunde – wir alle haben eine eigene, einzigartige Sichtweise.'“

Mir war Boyd bisher nur vom Namen bekannt. Doch nun möchte ich gerne weitere Werke des Autors lesen, der mich beeindruckt hat mit seinem Vermögen solche eine polarisierende Figur zu entwerfen und zeitgleich einen Roman zu schreiben, der Fotografie bzw. die Möglichkeit mehr in einem Menschen zu sehen, als der erste Blick vermag, aufzuzeigen. Damit schafft er zwischen den Zeilen die Verbindung zur Arbeit eines Schriftstellers, der ebenso Szenen erkennt, wo andere vorbei schauen und diese so zu inszenieren, dass etwas daraus entsteht. Dass sie lebendig und zu einem großen Ganzen verflochten werden.

„Die Fotografin“ ist der einnehmende Roman über eine Persönlichkeit von großer Präsenz. Sprachlich an die darin angestimmte Atmosphäre angepasst, mit wechselwirkenden Stimmungslagen ausgefüllt, war es für mich der pure Genuss, Amory Clay auf ihrem Lebensweg zu begleiten.

Buchinfo:


Berlin Verlag (Februar 2016)
560 Seiten
Gebunden mit Schutzumschlag
24,00 €
Originaltitel: Sweet Caress
Übersetzung: Patricia Klobusiczky / Ulrike Thiesmeyer

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2 Kommentare:

  1. Deine Rezi ist klasse weil sie einiges bestätigt was ich beim lesen des Klappentextes bereits vermutet habe;)
    Ich möchte die nächsten Tage das Hörbuch dazu hören und freue mich jetzt umso mehr drauf :)
    LG Ela

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    1. Hey,
      freut mich, dass ich deine Vorfreude steigern konnte ;)
      Ich wünsche dir viel Spaß mit dem Hörbuch und bin gespannt, wie es dir gefällt.

      Liebe Grüße
      Nanni

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