22.01.15

Ich nannte ihn Krawatte - Milena Michiko Flasar



"Der unsichtbare Faden hat einen vom Augenblick der Geburt an mit dem anderen verbunden. Ihn zu kappen, dazu bedarf es mehr als nur eines Todes und es nützt nichts dagegen zu sein."

Zwei Männer begegnen sich auf einer Parkbank. Einer jung, einer Alt. Etwas verbindet die beiden. Sie beide leben in ihrer eigenen Welt, haben sich eine Illusion erschaffen in der sie sich nicht unbedingt wohl, aber sicher fühlen. Zwei, die sich von ihren Mitmenschen abgegrenzt haben, weil es ein Erlebnis in ihrem Leben gab, das sie nachhaltig beeinflusst hat. Ein trauriges Erlebnis das, könnten sie die Zeit zurück drehen, vielleicht anders begangen würde. Oder auch nicht, denn es war vor allem Mut, der ihnen fehlte, und den sie sich in ihrer selbst gewählten Isolation nicht erschaffen konnten.

"Er liebte die Dämmerung. Das Licht, sagte er, sei dann traurig und freundlich zugleich. Es trauere um den Tag, der vergangen, es freue sich auf die Nacht, die angebrochen sei."

Milena Michiko Flasar lebt in Wien, ist Tochter einer Japanerin und eines Österreichers und mit beiden Kulturen vertraut, scheinbar fasziniert von der weit entfernten Japans. Ihre Worte berühren mich vom ersten Satz an und können es fast durchweg. Auf sehr sanfte und ruhige, aber bewegende und vor allem kluge Weise, bringt sie dem Leser das japanische Familienleben näher, das für mich teilweise sehr befremdlich ist.

"Ich, der Kyoko niemals betrogen hat, fühle mich, als ob ich eine Geliebte hätte. Ihr Name ist Illusion. Sie ist nicht schön, aber hübsch genug."

Der Ton der Erzähle ist melancholisch und voller Selbstzweifel. Beide haben eine schwere Last aus der Vergangenheit zu tragen. Der Junge ist ein Hikikomori, ein junger Mensch, der sich innerhalb der Familie isoliert. Er lebt im selben Haus wie seine Eltern, in der selben Wohnung und doch haben beide Generationen keinerlei Kontakt zueinander. Was bringt einen Menschen dazu, sich so einzuigeln?

"Ich fragte mich oft, warum man das nicht mehr kann, sinnlos glücklich sein. Warum man, wenn man groß wird, in engen und niedrigen Räumen sitzt, egal wo man ist, höchstens von einem Raum zum anderen geht, wo man doch als Kind in einem Raum ohne Wände war. Denn so habe ich es in Erinnerung: Als ich klein war, war mein Obdach meine Gegenwärtigkeit."

Der Alte hat schon seine Erfahrungen gemacht, er scheint die Weisheit der Jahre mit sich herum zu tragen, die ihm einst wenig genützt haben, als er einen großen Fehler begangen hat. Nun ist er arbeitslos, traut sich nicht seiner Frau, die von ihm so liebevoll beschrieben wird, dass der Leser das Gefühl bekommt, schon lange mit ihr bekannt zu sein, davon zu erzählen. Vordergründig zwei bemitleidenswerte Schicksale, doch zwischen den Zeilen ist für den, der die Augen offen hält, eine ganz wundervolle Geschichte über Familie, Zwischenmenschlichkeit und die Erfüllung der Liebe zu entdecken.

Buchinfo:


btb (März 2014)
144 Seiten
Taschenbuch 
8,99 €



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