28.09.19

Die Spiegelreisende 01: Die Verlobten des Winters | Christelle Dabos




Am liebsten versteckt sie sich hinter ihrer dicken Brille und einem Schal, der ihr bis zu den Füßen reicht. Dabei ist Ophelia eine ganz besondere junge Frau: Sie kann Gegenstände lesen und durch Spiegel reisen. Auf der Arche Anima lebt sie inmitten ihrer riesigen Familie und kümmert sich hingebungsvoll um das Erbe der Ahnen. Bis ihr eines Tages Unheilvolles verkündet wird: Ophelia soll auf die eisige Arche des Pols ziehen und einen Adligen namens Thorn heiraten. Was hat es mit der Verlobung auf sich? Wer ist der Mann, dem sie von nun an folgen soll? Und warum wurde ausgerechnet sie, das zurückhaltende Mädchen mit der leisen Stimme, auserkoren? Ophelia ahnt nicht, welche tödlichen Intrigen sie auf ihrer Reise erwarten, und macht sich auf den Weg in ihr neues, blitzgefährliches Zuhause.
(Text & Cover: © Insel; Foto: © N. Eppner)


In der Phantastik gibt es etliche ähnliche Geschichten, viele Romane, in denen der Plot sehr gleich klingt, die Figuren ähnlich, der Erzählstil wie nach Norm. Aber zum Glück gibt es auch noch die Geschichten, die so ganz anders sind. Die mich herausfordern, die überraschen und so lebendig erzählt werden, als sei es völlig normal durch einen Spiegel zu reisen oder die Vergangenheit von Gegenständen lesen zu können.

Genau das sind die Fähigkeiten von Ophelia, der unscheinbaren jungen Frau, die ihre Zeit am liebsten in der Bibliothek verbringt und bis dato jegliche Verehrer abgewiegelt hat und allen bisherigen Heiratsanträgen entgehen konnte. Doch nun ist es soweit. Sie muss den Adligen Thorn heiraten und mit ihm auf die Arche Pol ziehen. Aus ihren Büchern weiß sie, dass dies eine vertrackte Situation ist, denn der Pol ist kalt und die Männer dort gleichen gefräßigen Raubtieren. Ob die Begleitung einer Tante als Anstandsdame das wohl ausbügeln kann, sei ebenfalls dahingestellt. Fakt ist: auf der Arche Pol ist alles anders, als auf Ophelias Heimatarche Anima. Und der größte Unterschied ist, dass man sich auf Anima mag und auf Pol scheinbar alle miteinander verfeindet sind.

Der Roman beginnt mit einem ungewöhnlichen Epilog, der Fragment betitelt wurde und als Erklärung der im Buch dargestellten Welt gilt. Angelehnt an die christliche Entstehungsgeschichte der Welt gab es auch in Dabos' dargestellter Welt ein von (einem. welchem?) Gott erschaffene Welt, in der alle Menschen nett zueinander waren und sich als Eins sahen. Dann zerbrach diese Welt. Mehr erfahren wir im Epilog nicht, aber es scheint mir so, dass der Bruch der im Roman dargestellten Welt etwa vergleichbar ist mit Evas Biss in den von der Schlange dargereichten Apfel. Wer nun Sorge hat, dass "Die Spiegelreisende" religiös daherkommt, den kann ich beruhigen, aber ich wage zu behaupten, dass Dabos die ein oder andere Idee an den ein oder anderen Gedanken aus der christlichen Geschichte anlehnt.

"Die Spiegelreisende" ist farbenprächtig und fantasievoll. Es gibt viel zu entdecken und obwohl die Schreibe so locker und flüssig ist, dass ich nur so durch die Seiten fliege, lohnt es sich hier und da näher hinzuschauen. Dabos versteckt ganz viel zwischen den Zeilen, einige Anpsielungen zu altbekannten Geschichten, aber auch kleine Heimlichkeiten, die im späteren Verlauf der Geschichte an Wichtigkeit gewinnen. Ich muss gestehen, dass es für mich noch zwei, drei Unklarheiten gibt, von denen ich aber hoffe, dass sie in den Folgebänden aufgeklärt werden.

"Die Spiegelreisende" steckt so voller Überraschungen wie ein Buch nur vollstecken kann. Es ist nichts (wirklich nichts!) vorhersehbar. Ich bin begeistert von ihrer Fantasie und den Figuren, die sie so konzipiert hat, dass es genügend Personen zum Lieben oder Hassen gibt. Eher Hassen, denn eins ist wirklich sicher: traue niemandem!

Ich freue mich auf die Folgebände der Reihe und kann diesen Auftakt guten Gewissens empfehlen.


Buchinfo:

Insel (2019)
535 Seiten
Hardcover
18,00 €
ÜBERSETZUNG: Amelie Thoma


Rezensionen: © 2019, Nanni Eppner

25.09.19

Wege, die sich kreuzen | Tommi Kinnunen




1996, im Norden Finnlands. Als Lahja im Sterben liegt, blickt sie auf ein langes Leben zurück, in dem sie ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht hat: das Fotografieren. Ihr treu sorgender Ehemann Onni jedoch konnte ihr nicht geben, nach was sie sich sehnte – bis sie sich nach Jahren der unterdrückten Gefühle zu einer grausamen Tat hinreißen ließ. Erst nach ihrem Tod findet ihre Schwiegertochter Kaarina einen Brief, der die entsetzliche Wahrheit ans Licht bringt. Er erzählt von einer Familientragödie, die schon fast hundert Jahre zuvor mit Lahjas Mutter ihren Anfang genommen hat …
(Text & Cover: © Randomhouse; Foto: © N. Eppner)


"Wege, die sich kreuzen" ist ein eindringlicher Roman. Vier Personen verschiedener Generationen, alle einer Familie zugehörig, werden dargestellt, spiegeln die Probleme ihrer jeweiligen Zeit, des zweiten Weltkriegs und seiner Folgen. Erzählt wird auf vier Ebenen, in sich überschneidenden Jahrzehnten.

Jede Handlung zieht einen Schweif an ungeahnten Folgen hinter sich her. Folgen, die sich manchmal über Generationen hinziehen, deren Last von mehreren Generationen getragen wird. Hin und wieder kommt es auch vor, dass etwas von einer Generation als Glück, von der anderen aber als schwere Bürde empfunden wird. 

Maria ist Hebamme, alleinerziehend, weil sie es so wollte. Ein Kind, das war ihr Wunsch, nicht aber der Mann dazu. Sie muss sich durchboxen, kommt aber zurecht, in den Anfängen des 20. Jahrhunderts, in der ihre größten Gegner Kälte und Unwissenheit sind. Lebt nach ihren Vorstellungen, so gut wie möglich, getrieben von Wünschen und Hoffnung. 

Ihre Tochter Lahja empfindet den Lebensstil der Mutter nicht als unangenehm. Zumindest nicht für die Mutter. Sie selbst möchte aber nicht so leben. Sie möchte einen Mann, der ihr unter die Arme greift, der ein guter Vater ist, der ihr zur Seite steht. Diesen Mann findet sie in Onni, der ihr all diese Wünsche erfüllt. Und doch gibt es eine tiefe Kluft zwischen ihnen. Eine Dunkelheit, die weder Lahja, noch sie beide als Paar füllen können. 

Es ist diese Dunkelheit, die Lahja mehr und mehr einhüllt und mit ihr alle Beziehungsgeflechte zu kommenden Personen. Ihrer Schwiegertochter Kaarina, die ebenfalls eine der Erzählebenen einnimmt, wird nie richtig warm mit Lahja, die sich mehr und mehr in Starrsinn und negativen Gedanken verkriecht.

Onnis Erzählebene sorgt für erkennen, begreifen, verstehen. Kinnunen rundet damit, dass er ihn zuletzt zu Wort kommen lässt, das Buch perfekt ab. Hat bis dahin die Spannung hochgezogen und wirft dann den Leserinnen und Lesern die Geheimnisse von Onnis Seele vor die Füße. Die Dunkelheit, die ihn seit dem Krieg begleitet, die Schreie, das Blut, die ihn verfolgen und der Wunsch davon wegzukommen, ein Leben zu führen, das mit seinem nichts mehr zu tun hat.

Obwohl der Erzählstil während des kompletten Romans gleichbleibend klar ist, mit kurzen Sätzen, hinter denen viel steckt, gelingt es Kinnunen jeder der Personen eine eigene Sprache zu verleihen, jede Erzählebene mit einer eigenen Atmosphäre zu versehen. Mal kühl und düster, mal kraftvoll, mal verständnisvoll, mal hoffnungslos. 

"Wege, die sich kreuzen" ist eine lesenswerte Annäherung an das was Krieg und Gewalt mit Menschen machen. Wie Schicksalsschläge Familien hinterlassen, wie sie Generationen beeinflussen. "Wege, die sich kreuzen" erzählt aber auch von der Kraft, die in einer Persönlichkeit steckt, und der Kraft von Wünschen, deren Erfüllung nicht immer zu einem positiven Verlauf führt, auch wenn der Gedanke dahinter noch so rein ist.


Buchinfo:

Penguin (2019)
352 Seiten
Taschenbuch
10,00 €
ÜBERSETZUNG: Angela Plöger



Rezensionen: © 2019, Nanni Eppner

17.09.19

Wir von der anderen Seite | Anika Decker




Als Rahel Wald aus einem heftigen Fiebertraum erwacht, versteht sie erst mal gar nichts. Wo ist sie, warum ist es so laut hier, was sind das für Schläuche überall. Nach und nach beginnt sie zu verstehen: Sie ist im Krankenhaus, sie lag im Koma. Doch richtig krank sein, hatte sie sich irgendwie anders vorgestellt: feierlicher, ja, heiliger. Als Komödienautorin kennt sich Rahel durchaus mit schrägen Figuren und absurden Situationen aus, aber so eine Reise von der anderen Seite zurück ins Leben ist dann doch noch mal eine eigene Nummer. Vor allem, wenn der Medikamentenentzug Albträume und winkende Eichhörnchen hervorruft. Zum Glück kann sie sich auf die bedingungslose Unterstützung ihrer verrückten Familie verlassen, die immer für sie da ist. Und noch etwas wird Rahel immer klarer: Ihr Leben ist viel zu kostbar, um es nach fremden Erwartungen auszurichten. Von jetzt an nimmt sie es selbst in die Hand.
(Text & Cover: © Ullstein; Foto: © N. Eppner)


Wir von der anderen Seite - diejenigen, die dem Tod von der Schippe gesprungen sind, aber auch diejenigen, die mit ihrer Krankheit so viel Lebenszeit verbringen, dass sie in einem eigenen kleinen Organismus leben. So wie Anika Decker, die wie ihre Protagonistin Rahel, für einige Tage im künstlichen Koma lag. "Wir von der anderen Seite" ist kein autobiografischer Roman, aber Anika Decker weiß, was es bedeutet, wenn die andere Seite viel Raum einnimmt und das eigentliche Leben in der Warteschleife hängt.

Der Roman beginnt mit Rahels Erwachen aus dem Koma. Ihre Erinnerung an die Zeit davor ist blass und schemenhaft, ihre Eltern, die täglich an ihrem Bett saßen, über sie wachten, Rahels Lebenswillen einzäunten, damit er an ihr Haften blieb und sich nicht plötzlich davon schlich, können ihr nicht so Recht Auskunft geben. Rahel selbst kann ihren aktuellen Gesundheitszustand gar nicht so recht einordnen. Ist verblüfft, dass ihre Muskeln nicht mehr funktionieren, ihr Körper so schwach und auf technische, sowie menschliche Hilfe angewiesen ist. Nicht mal einen Löffel kann sie mehr heben. Das Koma hat all ihre Kraft aufgefressen, ihre Muskeln abgenagt, aber ihr Wille ist noch da und den versucht sie nach und nach wieder aufzubauen.

Nach wenigen Seiten des Romans habe ich einen Kloß im Hals. "So schnell kann's gehen" ist keine leere Phrase. Es kann tatsächlich so schnell gehen und von einem Moment auf den anderen steht dein Leben Kopf. Ist nicht mehr so wie es einmal war. Du bist nicht mehr der Mensch, der du einmal warst. Bist entkräftet, aber irgendwie auch gestärkt. 

Anika Decker ist Drehbuchautorin und bekannt für heitere Filme wie "Keinohrhasen". Ihr Humor ist ihr zum Glück auch während ihrer Erkrankung nicht abhanden gekommen und so gibt es in "Wir von der anderen Seite" einiges zu lachen. Viel Ironie und Situationskomik. "Wir von der anderen Seite" ist aber keine Komödie. Das Buch dreht sich um ein sehr ernstes Thema. Ist tiefgründig und vermittelt einen sehr guten Einblick in den Alltag eines Menschen, der/die täglich mit einer schweren Krankheit oder mit Reha konfrontiert wird. Es macht mich nachdenklich, manchmal traurig und holt mich aus jedem Gedankentief, in das es mich stürzt, auch wieder heraus. Decker gelingt es in höchstem Maße Angst mit Humor zu begegnen. 

"Wir von der anderen Seite" ist ein tolles Buch, das für Verständnis sorgt, das mich aber auch sehr berührt und toll unterhalten hat. Es ist ein Roman über die Höhen und Tiefen des Lebens, zeigt, dass wir eben jenes nicht vergeuden sollten, macht Mut und schürt Hoffnung, ohne zu ernst oder zu belehrend zu sein. Eine klare Leseempfehlung für Rahel Wald und ihren weg zurück ins Leben.


Buchinfo:

Ullstein (2019)
384 Seiten
Hardcover
20,00 €


Rezensionen: © 2019, Nanni Eppner

13.09.19

Die Vergessenen | Ellen Sandberg




1944. Kathrin Mändler tritt eine Stelle als Krankenschwester an und meint, endlich ihren Platz im Leben gefunden zu haben. Als die junge Frau kurz darauf dem charismatischen Arzt Karl Landmann begegnet, fühlt sie sich unweigerlich zu ihm hingezogen. Zu spät merkt sie, dass Landmanns Arbeit das Leben vieler Menschen bedroht – auch ihr eigenes.
2013. In München lebt ein Mann für besondere Aufträge, Manolis Lefteris. Als er geheimnisvolle Akten aufspüren soll, die sich im Besitz einer alten Dame befinden, hält er das für reine Routine. Er ahnt nicht, dass er im Begriff ist, ein Verbrechen aufzudecken, das Generationen überdauert hat ...
(Text & Cover: © Randomhouse; Foto: © N. Eppner)

Ich lese nicht sehr häufig Krimis, greife aber dann zu, wenn es weniger blutig, als vielmehr psychologisch zugeht. Das versprach der Verlag im Untertitel dieses Buches und auch viele Bekannte waren sehr angetan von "Die Vergessenen", so dass ich mir das auswählte. 
Leider ein Fehlgriff.

Ellen Sandberg (Pseudonym einer bekannten Krimiautorin) konstruiert eine Geschichte auf vielen Ebenen, die im Laufe des Romans immer mehr miteinander verbunden werden. Das sie so vorgehen wird, war mir recht früh klar, nimmt dem Buch aber nicht unbedingt die Spannung. Zumal jede Figur erstmal recht spannend wirkt.

Dann habe ich allerdings das Gefühl mich in einem recht künstlichen Konstrukt zu bewegen. Die psychologischen Hintergründe der Figuren empfinde ich eher als banal, denn komplex und knifflig durchdacht. Aber auch darüber kann ich noch hinwegsehen. Ebenso über die Sprache, die sich zwar schnell lesen lässt, aber auch sehr konstruiert auf mich wirkt.

Die meisten Probleme habe ich allerdings mit den Figuren. Vera Mändler ist duckmäuserisch und Manolis Lefteris führt ungestraft Selbstjustiz durch. Mmmh...stellt er sich damit nicht auf eine Stufe mit denjenigen, die er bestrafen möchte? 

Das Grundthema des Romans ist ein sehr wichtiges, das nicht in Vergessenheit geraten darf. Kriegsverbrechen, brutale Gewalt an Unschuldigen, die auch von Ellen Sandberg nicht zimperlich dargestellt wird. Nichts für schwache Gemüter, aber ein Weg, um eine bedrückende Atmosphäre heraufzubeschwören. 

Ich bin sehr dafür, dass wir immer und immer wieder über die sinnlose Gewalt des zweiten Weltkriegs sprechen. Das wir das tun müssen, damit diese Ungerechtigkeiten eben nicht in Vergessenheit geraten. Der Weg, der für "Die Vergessenen" gewählt wurde, entspricht allerdings nicht meinem persönlichen Geschmack.



Buchinfo:

Penguin (2018)
528 Seiten
Taschenbuch
10,00 €


Rezensionen: © 2019, Nanni Eppner

09.09.19

Mein Sommer auf dem Mond | Adriana Popescu




Cooler Sportler, niedliche Träumerin, lässiger Underdog und freche Sprücheklopferin – alles nur Fassade ...
… und die müssen Fritzi, Bastian, Tim und Sarah aufgeben, als sie mit ihren tiefsten Geheimnissen im Therapiezentrum auf Rügen landen. Einen lebensverändernden Sommer lang werden die vier vom Schicksal zusammengewürfelt und ordentlich durchgeschüttelt. Dabei wachsen sie über sich hinaus, finden ihr wahres Selbst, großen Mut und entdecken die erste wahre Liebe ...
(Text & Cover: © Randomhouse; Foto: © N. Eppner)


Adrianas Bücher mag ich so gerne. Sie gehören für mich zu den Wohlfühlromanen, die mich immer wieder in Herzlichkeit und Freundschaft einbetten. In Abenteuer und Ankommen.

Auch "Mein Sommer auf dem Mond" hat etwas mit Abenteuer und Ankommen zu tun. Dem Abenteuer neuen Freundschaften zu begegnen und dort anzukommen, wo man sich selbst findet. Um in der eigenen Stärke Kraft zu finden, der Krankheit auch weiterhin die Stirn zu bieten.

Fritzi, Bastian, Tim und Sarah sind vier sehr unterschiedliche Jugendliche, die mit unterschiedlichen Krankheitsbildern in einer psychiatrischen Rehaklinik ihre Therapie bestreiten. Unverhofft geraten sie in eine Situation, die alles von ihnen abverlangt, aber auch viel zurückgibt. Mut, Freundschaft, Liebe, Selbstvertrauen.

Wieder hat Adriana Popescu Figuren geschaffen, die Identifikationspotential bieten und die sympathisch und nahbar sind. Ihre Krankheitsbilder bleiben lange Zeit geheim, was ich sehr gut finde, denn so bietet die Autorin Zeit, um die einzelnen Persönlichkeiten kennenzulernen und wahrzunehmen und nicht die Krankheit vor den Charakter zu schieben.

Die Schreibe ist gewohnt locker und flüssig, eine Mischung aus Humor und Ernsthaftigkeit. Ich muss allerdings sagen, dass mir in "Mein Sommer auf dem Mond" etwas an Tiefe fehlt, die ich eigentlich von Popescu kennen. Außerdem werden viele Nerd-Insider aneinander gereiht, deren Häufigkeit mir ein wenig zu viel war.

Nichtsdestotrotz ist "Mein Sommer auf dem Mond" ein ebenso lesenswerter und unterhaltsamer Jugendroman wie alle anderen Bücher der sympathischen Autorin.


Buchinfo:

cbj (2018)
400 Seiten
Paperback
13,00 €



Rezensionen: © 2019, Nanni Eppner

07.09.19

Miroloi | Karen Köhler




"So eine wie ich ist hier eigentlich nicht vorgesehen." - Karen Köhlers erster Roman über eine junge Frau, die sich auflehnt. Gegen die Strukturen ihrer Gesellschaft und für die Freiheit
Ein Dorf, eine Insel, eine ganze Welt: Karen Köhlers erster Roman erzählt von einer jungen Frau, die als Findelkind in einer abgeschirmten Gesellschaft aufwächst. Hier haben Männer das Sagen, dürfen Frauen nicht lesen, lasten Tradition und heilige Gesetze auf allem. Was passiert, wenn man sich in einem solchen Dorf als Außenseiterin gegen alle Regeln stellt, heimlich lesen lernt, sich verliebt? Voller Hingabe, Neugier und Wut auf die Verhältnisse erzählt „Miroloi“ von einer jungen Frau, die sich auflehnt: Gegen die Strukturen ihrer Welt und für die Freiheit. Eine Geschichte, die an jedem Ort und zu jeder Zeit spielen könnte; ein Roman, in dem jedes Detail leuchtet und brennt.
(Text & Cover: © Hanser; Foto: © N. Eppner)


Ich möchte über "Miroloi" sprechen. Muss darüber sprechen.
Muss darüber diskutieren und laut herausschreien wie großartig dieses Buch ist. 
Wie klug. 
Wie wegweisend. 
Wie umtreibend. 
Wie wichtig.
So fundamental, wenn es um ein Umdenken vorhandener Strukturen geht, dass ich mich frage, warum es solch eine Geschichte nicht schon mindestens fünfmal mal gibt.

"Eselshure. Schlitzi. Nachgeburt der Hölle. Ich war schon von Anfang an so hässlich, dass meine eigene Mutter mich lieber hier abgelegt hat, statt mich zu behalten. So eine wie ich, sagen sie, so eine kann nicht von hier sein, so hässlich ist hier niemand, solche Mütter gibt's hier nicht." (S.9)

Schon die ersten Sätze wirken wie eine Reibe, die meine Emotionen aufkratzt. Köhler hat mich vom ersten Moment. Ich reise in das Dorf auf die Insel, die aufgrund Vegetation und Landwirtschaftlichen Erzeugnissen im Mittelmeer liegen könnte, inmitten vieler Kulturen, zusammengesetzt aus vielen Kulturen, könnte aber auch irgendwo anders sein. Die Dorfgemeinschaft lebt abgeschottet, hat eigene Gesetze, lehnt jeglichen Fortschritt ab, lebt nach jahrhundertealten Traditionen. Die Dorfgemeinschaft hat etwas von einer Sekte, die nichts von außen herandringen lässt, ist aber gleichzeitig auch ein Mix aus verschiedenen Kulturen und Religionen. Die Dorfgemeinschaft ist beängstigend und bedrückend und gleichzeitig gibt sie durch enge Strukturen einen gewissen Rahmen, der seine eigene Form von Sicherheit bietet. Und auch der Fortschritt, dem sich die Dorfgemeinschaft verwehrt, ist nicht immer positiv zu betrachten. Arbeitsabläufe werden erleichtert, aber auf wessen Kosten?

Die Protagonistin, das Mädchen ohne Namen, ist der Teufel der Dorfgemeinschaft. Alle negativen Ereignisse werden ihr zugeschrieben, jede*r lädt die eigene Schuld auf ihr ab. Ich muss an den Glauben an Hexenkinder denken, der in einigen afrikanischen Ländern besteht. Kinder jeglichen Alters werden von der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen, müssen alleine überleben, weil sie Schuld am Unglück des Dorfes tragen.

"Miroloi" ist ein Spiegel verschiedener Gesellschaftsformen. Auch unserer eigener, die uns so klug und fortschrittlich erscheint und in Wirklichkeit in vielerlei Hinsicht so primitiv ist. Wie im Roman auch, gibt es Diskriminierung, veraltete Denkmuster, Ausgrenzung und Gewalt wo Intelligenz fehlt. Köhler schreibt so geschickt davon wie Denkmuster entstehen, wie Traditionen geboren werden und wachsen, dass die Kritik daran so offensichtlich wird, dass ein Brechen von veralteten und unsinnigen Traditionen (gerade im Namen von Religion) geradezu als Muss erscheint. Und doch fahren wir überall auf der Welt weiter in der Schiene, die Menschen herabwürdigt, verletzt oder tötet. Und trotz aller Kritik ist klar, dass ein schwarz-weiß Denken das Übel vieler Probleme ist.

Die Sprache des Romans ist naiv. Ein Stilmittel, das für mich perfekt passt. Wer den Inhalt des Romans jedoch als naiv betrachtet, sollte beim Lesen darauf achten die Augen zu öffnen. "Miroloi" ist eine moderne Fabel. Zeitgemäß. Kritisch. Brilliant konstruiert. Flüssig zu lesen und rund bis zum letzten Satz. Ich habe mir direkt nach dem Lesen auch noch das Hörbuch heruntergeladen. Ich muss nochmal in die Geschichte eintauchen. Bin mir sicher, dass ich noch einiges übersehen habe. "Miroloi" hat mich nicht nur zum Nachdenken angeregt, sondern einen ganz neuen Mut, eine neue Energie in mir geweckt. Ich wünsche dem Buch ganz viele Leserinnen und Leser, die mit offenen Augen durch die Seiten wandern. Die verstehen wollen, was da passiert. Die sich damit auseinandersetzen wollen, dass wir täglich mit Ungerechtigkeiten konfrontiert werden. Die wollen, dass sich etwas ändert. Eine Veränderung kommt erst dann in Bewegung, wenn wir erkennen. Manchmal ist es eben einfacher dies im fiktiven zu finden, als in einer realen Erzählung. Und deshalb hat Karen Köhler alles richtig gemacht. 



Buchinfo:

Hanser (August 2019)
464 Seiten
Hardcover (ohne Plastik)
24,00 €



Rezensionen: © 2019, Nanni Eppner