04.06.20

Miracle Creek | Angie Kim





Wie weit würden wir gehen, um unsere schamvollsten Geheimnisse zu bewahren? „Mit durchdringender Menschenkenntnis führt Angie Kim tief in das Innenleben ihrer Charaktere.“ (Los Angeles Times)
In der Kleinstadt Miracle Creek in Virginia geht ein Sauerstofftank in Flammen auf. Zwei Menschen sterben – Kitt, die eine Familie mit fünf Kindern zurücklässt, und Henry, ein achtjähriger Junge. Im Prozess wegen Brandstiftung und Mord sitzt Henrys Mutter Elizabeth auf der Anklagebank. Und die Beweise sind erdrückend. Hat sie ihren eigenen Sohn ermordet? Während ihre Freunde, Verwandten und Bekannten gegen sie aussagen, wird klar: In Miracle Creek hat jeder etwas zu verbergen.
(Text & Cover: © Hanser; Foto: © N. Eppner)


Immer wieder suche ich nach Büchern, die ähnlich spannend sind wie Krimis oder Thriller, aber nicht blutig oder gruselig. Angie Kim ist mit ihrem Debüt genau so ein Roman gelungen. Eine Geschichte, die ich gut und gerne in einem Durchlauf hätte verschlingen können, weil ich sie so ungern unterbrochen habe. 

Der Aufbau des Romans ist grandios. Genau so stelle ich mir die Arbeit von Anwältinnen und Anwälten, Ermittlerinnen und Ermittlern vor. Ich frage mich immer wieder wie sie Klarsicht und Objektivität behalten. Wird nicht all unser Denken von eigenen Erfahrungen, von der eigenen Biografie bestimmt?

Kims Roman, den ich mir sehr gut auch als Verfilmung vorstellen könnte, zeigt mir, dass es nie eine klare Sicht auf die Dinge gibt. Dass Ereignisse von verschiedenen Menschen verschieden wahrgenommen werden, eben weil jede*r in einem anderen Kontext zum Erlebnis steht. Wie steht es um die eigenen Bedürfnisse? Wie sehr fließen sie in unsere Wahrnehmung ein? Und welche Rolle spielt in der Beurteilung einer Situation die Möglichkeit, dass wir unseren eigenen Dreck unter den Teppich kehren wollen?

Nehmen wir den Fall Elizabeth. Mutter des autistischen Henry, den sie zu diversen Therapien bringt, um seinen Autismus zu heilen oder zumindest zu verbessern. Es gibt Mütter, die bewundern Elizabeths Energie, mit der sie Henry unterstützt, ihr eigenes Leben hinten anstellt. Es gibt Mütter, die haben Mitleid mit Henry, weil er nicht so sein darf, wie er zur Welt gekommen ist und durch die Therapien viel Stress hat. Es gibt Mütter, die bemitleiden Elizabeth, weil sie alles in ihrem Leben für ihren Sohn aufgegeben hat. Es gibt also diese zwei Personen, die im Fokus stehen, im Mittelpunkt der Betrachtung, aber in den Augen der verschiedenen Betrachtenden, immer anders aussehen.

Genau diesen Punkt spielt Kim in ihrem Roman aus. Durch einen Netzartigen Aufbau des Gerichtsverfahren, in dem immer wieder Handlungen und Gedanken verschiedener Figuren aus der Vergangenheit und Gegenwart verwoben werden, hat sich mich immer wieder in Bewegung gebracht. Ich weiß gar nicht wie oft ich meine Sympathien und Anschuldigungen wechselte. Während ich diese Manipulation der Autorin im Rahmen des Lesens als grandios empfinde, bleibt ein fader Beigeschmack, der mich darüber nachdenken lässt, wie es mir wohl im realen Leben ergeht. Lasse ich meine Perspektive auch im Real Life so sehr beeinflussen? Ist das Gut oder Schlecht?

Ein weiterer, sehr spannender Aspekt des Romans sind die Kausalketten, in die Kims Figuren verwickelt werden. Wie sehr unterliegen wir ihnen? Sind wir damit noch frei in unserem Handeln oder wird immer irgendwo irgendwas von äußeren Umständen beeinflusst?

Stück für Stück gibt Kim Einblick in die Lebensumstände, in die Hoffnungen, Sehnsüchte und dunklen Seiten der einzelnen Figuren. Was treibt sie an? Wie weit gehen sie um ihren Familien ein besseres Leben zu bieten? Welche Schuld laden sie auf sich, für einen Moment des Glücks? Wie gehen sie mit dieser Schuld um? Wie leben sie mit dem, was sie getan haben, weiter?

Angie Kim hat mich ausgesprochen gut unterhalten, aber auch aufgerieben in meinem Denken. Hat viele Fragen aufgeworfen. Ich muss gestehen, dass es mir sehr schwer fiel die Figuren nicht in Schubladen stecken, nicht in Gut und Böse unterteilen zu können, weil die Autorin so sehr mit ihnen und ihrer Wirkung auf mich als Leserin spielt, und auf der anderen Seite hat mich genau das sehr fasziniert. 

Letztendlich bleibt mir nur zu sagen: Lest "Miracle Creek"! 

Buchinfo:

Hanser (2020)
Hardcover mit Schutzumschlag 22,00 €
ÜBERSETZUNG: Marieke Heimburger


Rezensionen: © 2020, Nanni Eppner

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